Ethnografie in der Marktforschung: Ist das noch (akademische) Feldforschung?
Ethnografie als Forschungsmethode innerhalb der Völkerkunde widmet sich klassischerweise der Beobachtung und Analyse von Kulturen und Gesellschaften. Hauptsächlich geschieht dies durch Feldforschung, also eine praktische Teilnahme des Wissenschaftlers am Alltag des Forschungsobjekts. Ethnografische Methoden finden heute ebenfalls Einsatz in der Marktforschung. Inwiefern unterscheidet sich die akademische Ethnografie von derjenigen zu Marktforschungszwecken? Welche Methoden sind ihnen gemein? Und ist der Begriff Ethnografie in der Marktforschung überhaupt zielführend?
Klassische Ethnografie
Die Wurzeln der akademischen Ethnografie reichen weit in die Geschichte zurück. Bereits in der Antike hielten Historiker und Geografen wie der Grieche Herodot (5. Jh. v. Chr.) ihre Beobachtungen über fremde Kulturen, über deren politische und gesellschaftliche Systeme, deren Religionen und Aussehen fest. Grundlage der Erforschung menschlicher Sozialsysteme ist in der Ethnografie seit jeher die teilnehmende Beobachtung bzw. die Feldforschung. Die Maxime lautet: Raus aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft, hinein in die Erfahrungswelt der Zielgruppe. Waren früher exotische Kulturen wie abgeschiedene indigene Völker auf einsamen Inseln Forschungsgegenstand, rückten im 20. Jahrhundert auch Subkulturen inmitten einer dichten Gesellschaft in den Fokus der Wissenschaft.
Ethnografie zu Marktforschungszwecken
Auch bei der Ethnografie in der Marktforschung steht das Eintauchen in die Lebens- und Erlebenswelt der Zielgruppe im Vordergrund. Ziel ist, Erkenntnisse zu gewinnen, die durch andere Erhebungsmethoden nicht gesammelt werden können, wie beispielsweise durch Fragebögen oder Gruppendiskussionen. Eine Beobachtung des Teilnehmerkreises liefert im besten Falle ungefilterte Einblicke in ihre Handlungsweisen und Kaufentscheidungen – ohne eine bewusste Reflexion, zu der u. a. das besagte Beispiel des Fragebogens anregen würde. In gewohnter Umgebung statt in einer künstlichen Laborsituation wird authentisches Verhalten sichtbar.
Das haben akademische und marketingorientierte Ethnografie gemeinsam
Ob die Erforschung einer traditionell gewachsenen Lebenswelt oder einer neuen Konsumwelt, für beide Forschungszwecke werden ähnliche Prinzipien angewandt:
- Die Beobachtung findet in der für die Zielgruppe gewohnten Umgebung statt
- Die Teilnahme am Alltag ermöglicht das Aufdecken von (unbewussten) Gründen für Handlungsweisen, wie Routinen, Werte, Gewohnheiten, Rituale etc.
- Forschung bedeutet hier, ganz praktisch mit den Augen des Forschungsobjekts zu sehen, anstatt nur theoretisches Wissen über die Zielgruppe zu sammeln.
Wesentliche Unterschiede zur klassischen Ethnografie
In einigen Aspekten unterscheiden sich ethnografische Methoden zu Marketingzwecken aber auch deutlich von denen zu wissenschaftlichen Zwecken. „Fokussierte“ Ethnografie ist hier ein treffender Begriff, denn es dreht sich zumeist um die Beantwortung einer konkreten Frage eines Unternehmens als Auftraggeber. Die akademische Feldforschung hat die Weiterentwicklung von Theorien zum Ziel, will Grundlagenforschung betreiben und setzt dafür teilweise auch mehrjährige Feldaufenthalte um. Mit ethnografischen Methoden in der Marktforschung wird dagegen eine praktische Fragestellung bearbeitet, deren Resultat in die wirtschaftliche Entscheidungsfindung einfließt.
In den meisten Fällen übernimmt die Zielgruppe auch selbst Teilaufgaben des Forschers und dokumentiert ihren Alltag bzw. die zu erforschenden Handlungsweisen, Kaufentscheidungen etc. zum Beispiel per Smartphone. Der Wissenschaftler „dirigiert“ in diesem Falle nur, was aufzuzeichnen ist, anstatt selbst vor Ort zu beobachten.
Gegenüber stehen sich also:
- Praktische Anwendbarkeit vs. theoretische Grundlagenforschung
- Wenige Wochen vs. mehrere Jahre
- Aufzeichnungen durch das Forschungobjekt vs. teilnehmende Beobachtunge des Forschers
- fokus auf marktrelevantem Teilbereich vs. komplexere Struktur
Einsatzzweck von Ethnografie in der Marktforschung
Werden ethnografische Methoden zur Beantwortung von Fragen in der Markt- und Konsumforschung angewandt, so werden damit folgende Aspekte untersucht:
- Einblick in alltägliche respektive konkrete Konsumsituationen und -orte
- Verständnis der Bedeutung des Konsums und nachvollziehen von Kaufentscheidungen
- Beobachtungen von Präferenzen für Waren oder Dienstleistungen
- Deutung von Lebensstilen
Fazit
In der akademischen Ethnografie taucht ein Wissenschaftler klassischerweise tief und für eine längere Dauer in die zu erforschende Kultur ein, um vorher aufgestellte Thesen zu validieren und Grundlagenforschung zu betreiben. Auch wenn die Marktforschung sich ähnlicher Methoden bedient, hat sie doch einen ganz anderen Fokus: Im Zentrum stehen die Beantwortung einer konkreten Frage eines Auftraggebers und das Sammeln von Einsichten zu Konsumentscheidungen, die in die Entwicklung einer Marketing- und Produktstrategie einfließen.